Stadtchronik Seelow
Jüdische Gemeinde
Um 1860 zog die Familie von Jakob Reissner nach Seelow, er führte ein Textilgeschäft in der Berliner Straße.
Später führte das Geschäft sein Sohn Moritz weiter, bis er nach Herzfelde verzog. Die Familie Moritz Reißner
emigrierte später in die USA, nach San Franzisko. In das Haus zog seine Schwester Adelheid, die einen Philipsborne
geheiratet hat. Sie hatten einen Sohn Heinz und wohnten in der Berliner Straße 46. Eine weitere Schwester Jule,
hat einen Herrn Irmling geheiratet, die in der kleinen Kirchstraße wohnten. Die dritte Schwester Rosalie, ertrank
1913, auf ihrer Hochzeitsreise in einem See. Des weiteren die Tochter Hildegard, welche 1938 einen Herrn
Wangenheim heiratete. Es gab noch eine weitere Schwester Trude, verheiratete Lewinsky. Ein weiterer Sohn, Louis
Reissner, gründete in Seelow auch eine Familie. Sie wohnten in der Berliner Straße 20 und führten eine
Fellhandlung. Er kaufte von den Fleischern und Jägern die Felle auf, wie vom Schwein, Rind, Ziegen, Schafe, Hasen,
Wiesel, Fuchs sogar Eichhörnchen. In den Stallungen wurden die Felle mit Viehsalz behandelt und einmal im Monat
kamen dann die Großhändler, kauften auf und holten die Felle ab. Zur Familie Louis Reißner gehörten die Söhne
Joachim und Willi, sowie die Schwester Ruth.
Das Viehsalz wurde sehr gerne vom Bäckermeister Stäuber geholt, als Zutat für die Herstellung von Eiskrem. Dies
hatte für die Kinder der Familie Reissner den Vorteil, oft eine Portion Eiskrem umsonst zu bekommen.
Bis zur Machtübernahme durch die Nazis 1933 war in Seelow ein friedliches und harmonisches Zusammenleben mit
den 3 jüdischen Familien und dem jüdischen Zahnarzt Dr. Felix Abraham in der Küstriner Straße. Andere Kinder
spielten mit den Kindern von Reissner, oder haben bei Jüdischen Feiertagen mit gefeiert und das jüdische Gebäck
„Matze“ gegessen.
Am 17.02.1931 annoncierte Herr Reissner im Auftrage der Jüdischen Gemeinde im Seelower Tageblatt den Verkauf
der Synagoge. Weil das Haus schon sehr alt war, wurde die Synagoge als Abrißhaus angeboten. Sie befand sich im
Kirchenviertel, Große Kirchstraße 6. Nach einigen Ver-kaufsschwierigkeiten kaufte das Grundstück am 31.10.1938
für 2000 Mark der Schlachtmeister Max Gabrecht
Der Jude Hugo Simon kaufte in den 20’iger Jahren das Schweizerhaus. Er hielt sich aber wenig in Seelow auf und
wohnte in Berlin. Der Berg, der am Schweizerhaus liegt, wurde auch als die „Simonsche Anlagen“ bezeichnet. Für
diese Anlagen wurde sehr viel Naturstein verwendet, was das Ganze noch harmonischer in der Natur erscheinen ließ.
Nicht vergessen soll man den Südhang, wo der Herr Simon Terrassen mit Wein anlegte und diesen teilweise unter
Glas reifen lies. Im Schweizerhaus gab es auch einen kleinen Ausschank und einen kleinen Tierpark. Viele Seelower
gingen am Sonntag Nachmittag zum Kaffee ins Schweizerhaus. Im Frühling und im Herbst veranstaltete er eine Jagd,
zu der viele Leute kamen, selbst Berliner scheuten den langen Weg nicht. Desweiteren veranstaltete er Kinderfeste.
Jedes Jahr richtete er für seine Angestellten ein Erntedankfest aus und noch vieles mehr. Oft gab es auch ein
Feuerwerk, welches zu dieser Zeit was ganz seltenes war.
Noch am 12. Dezember 1932 veranstaltete er eine Treibjagd und muß dann gleich vor oder nach der
Machtübernahme der Nazis, aus Deutschland geflohen sein. Das Schweizerhaus wurde am 07.07 1933 vom Staat
beschlagnahmt, mit der Begründung, daß der Besitzer ins Ausland geflohen ist. Bei der Übernahme stellte man fest,
daß das Schweizerhaus hoch verschuldet war. Man kann sich dieses bei einem Bankier kaum vorstellen, eher wird es
sein, daß der Herr Simon noch einmal Hypotheken auf das Schweizerhaus aufgenommen hat und das Geld ins
Ausland mitgenommen hat.
Am 16.11. 1937 wurde das Schweizerhaus umbenannt, in „Staatliches Versuchsgut Oderbruch“, wobei der Name
Schweizerhaus bis heute noch seine Gültigkeit behalten hat.
Die Jüdischen Bürger lebten bis 1933 , wie schon gesagt, friedlich als anerkannte und geschätzte Mitbürger der Stadt
Seelow. Die Männer wie Herr Philipsborn (Feldwebel) und Herr Reissner haben im 1.Weltkrieg für den Kaiser
gekämpft und wurden dafür auch dekoriert. Herr Reissner war Mitglied in der Seelower Schützengilde, wo er gute
Schießergebnise erzielte, so unter anderem als Schützenkönig von 1928 und 1929 oder beim Bundesschießen des
Kreises Lebus mit der Seelower Schützengilde. In den Bestenlisten der Schießergebnisse der Schützengilde findet
man Herrn Reissner noch am 29.09. 1933 beim Wanderordenschießen.
Der Brauch der Schützengilde war es, daß der König die Schützenkameraden zu einer Feier einlud und diese dann
auch bezahlte. In diesem Zusammenhang kam es oft vor, daß das Haus der Familie Louis Reissner mit Gästen gefüllt
war. Zum 50. Geburtstag von Luis Reissner am 12.03. 1932, gratulierte die Schützengilde mit einer Anzeige in der
örtlichen Tageszeitung und mit einem Ständchen von der Stadtkapelle Sprockhoff vor dem Haus.
Mit der Machtübernahme der Nazis wurden die Lebensräume der Juden ständig eingeengt. Es begann bereits am
1.April 1933 mit dem Boykott von jüdischen Geschäften, Arztpraxen, Anwalts-kanzleien und der Entlassung von
jüdischen Beamten. Auch vor dem Haus der Familie Reissner lief am 1.April 1933 ein SA-Mann und forderte seine
Mitbürger auf, nicht bei Juden zu kaufen. Etwas später wurde auch ein Schild an das Haus angebracht. Bis zu den
Olympischen Spielen 1936 hielt sich die Regierung etwas zurück, in der Schü-rung von Konflikten. Mit der
Ermordung eines Nazis, 1938 durch einem jüdischen Jungen in Paris, begann die verstärkte jüdische Diskriminierung.
Den Juden wurden die bürgerlichen Rechte entzogen.
Das Fellgeschäft Louis Reissner ging noch eine Zeit, bis es am 09. Januar 1939 aus dem Handelsregister des
Amtsgerichtes Seelow geloschen wurde. Etwas später am 10. Februar 1939 wurde die Firma der Frau Julie Irmling
und die Prokura des Kaufmanns Isedor Irmling geloschen. Danach arbeitete Herr Reissner als Zimmermann, um
etwas zu verdienen und weiter leben zu können.
Diskriminierungen gab es auch immer wieder, wobei diese nicht so sehr wie es in den Großstädten war. So gab es
Ärger wegen unerlaubten Waffenbesitzes und die SS holte die Waffe von Herr Reissner ab, welche er als ehemaliges
Mitglied der Schützengilde noch besaß.
Alle Bürger der Stadt Seelow hatten nicht vergessen, daß man vor 1933 auch die jüdischen Bürger anerkannte.
So gab es die Progromnacht in Seelow nicht am 9. November sondern erst am nächsten Tag, weil sich der
Ortsbauernführer von Seelow weigerte, bei den Juden die Scheiben einzuschlagen. Erst als eine Schlägertruppe aus
Frankfurt an der Oder kam wurde die Nacht in Seelow nachgeholt. Am Tag zuvor wurde schon die Telefonleitung
gestört, damit es der Familie Reissner nicht mehr möglich war anzurufen und am nächsten Tag, dem 11.11. kam der
Geselle der Telefongesellschaft und holte das Telefon ab. Er entschuldigte sich dafür, mußte den Auftrag aber
erfüllen.
Zu den guten Mitbürgern gehörte auch der Polizist Loose. Oft war er mit seiner Frau bei der Familie Reissner zu
Besuch. Als er die jüdischen Männer nach der Progromnacht in Schutzhaft nehmen mußte. Mußte er diese dem
Kreisarzt vorführen, um die Haftfähigkeit zu überprüfen. Um die Haftfähigkeit zu verneinen, kochte Frau Loose
einen starken Kaffee. Eine Stunde nach der Untersuchung waren auch schon die SS mit u.a. Herrn Heinz Weber da
und stellte den Juden ein Ultimatum: entweder melden sie sich haftfähig oder sie werden sofort erschossen. Herr
Louis Reissner und Herr Philipsborn kamen ins Konzentrationslager nach Sachsenhausen. Der Sohn Willi Reissner und
Cousin Heinz Philipsborn mußten sich beim 1.Kreissekretär bereit erklären, sich zu benehmen. Worauf auch die
Bemerkung von dem Sohn Reisner kam, daß sie sich schon immer gut benommen haben. Weil beide noch nicht 18
Jahre waren, blieben sie in Schutzhaft, so unter anderem jun. Reissner bei Frau Loose. Weil die Familie Loose der
Familie Reißner so geholfen hatten, schenkten sie Frau Loose einen Fuchsfell, den sie mit Stolz trug.
Nach ca. 4 Wochen wurden die beiden Männer aus dem Konzentrationslager entlassen. In dieser Zeit waren die
Frauen auf sich gestellt. Das Geschäft der Fellhandlung ging schon lange nicht mehr. Dieses nutzte die Frau Krüger
von der Seelower Abdeckerei aus, um ihren Familienschmuck von der Familie Reissner abzuholen. Die Vorgeschichte
war, daß die Abdeckerei Krüger finanzielle Probleme hatte und sich bei Herrn Reissner Geld borgte. Als Pfand und
Sicherheit hinterlegte die Familie den Schmuck.
Zu erwähnen wäre noch, daß der Herr Reissner Glück in der Lotterie hatte, wobei es aber nicht stimmt wie es der
Volksmund erzählt, daß er ein Großteil dieses Geldes in der Schweiz angelegt hatte.
Eine andere Begebenheit war Folgende in Seelow. Wie schon viele Jahre kam der Herr Reissner zum
Schneidermeister Stednisch ins Geschäft, um sich Sachen nähen oder ändern zu lassen. Nach dem die Nazis wieder
einmal eine Einschränkung für die Juden erlassen hatten, kam er etwas zögerlich in den Laden. Mit einer unsicheren
Stimme fragte er bei Herrn Stednisch „ Darf ich Ihren Laden noch betreten, oder ist es mir nach den neuen
Vorschriften verboten?“. Daraufhin besänftigte Herr Stednisch den Herrn Reissner und sagte zu ihm:“ Wenn sie
nicht mehr zu mir kommen dürfen, komme ich am Abend zu ihnen“.
Der damalige Rector der Seelower Stadtschule Herr Gottschalk, war trotz Ortsgruppenführer der NSDAP, immer
korrekt zu den jüdischen Schülern Willi und Joachim Reissner. Bei einer jährlichen Arztuntersuchung der Schüler,
wurde auch Joachim untersucht und der Kreisarzt erkannte in ihm nicht einen jüdischen Schüler und fragte nach
seiner Herkunft.. Der Rector Gottschalk stand daneben und sagte nicht daß er ein Jude ist, sondern: „ Der Junge
kommt aus dem Mosarischen.“. Selbst beim Abschied von der Schule, wurde Joachim von Herr Gottschalk persönlich
verabschiedet. In der Schule hatte Joachim wenig Probleme mit seinen Mitschülern, natürlich gab es Hänseleien,
wie sie öfter zwischen Schülern gab und gibt.
Vor 1933 gehörten Willi, Joachim und der Cousin Heinz, zur Schülermannschaft der Sportgemeinschaft „Viktoria“
Seelow. Obwohl es ihnen nach 1933 nicht erlaubt war mit in einer Fußballmannschaft zu spielen, wurde in Seelow
nicht immer so genau darauf geachtet und die Mitschüler bezogen sie ins Spiel ein, wenn ein Mitspieler fehlte. Aber
erwischen lassen durften sie sich nicht.
Joachim ging 1937 nach Beendigung der Schule in Seelow, in eine Jüdische Technische Schule „O.R.T.“ in Berlin-
Tiergarten und hatte das Glück, 3 Tage vor dem Kriegsbeginn am 26.09.1939, mit 111 Jungen und Lehrpersonal
nach England Evakuiert zu werden. Erst ging die Reise mit dem Zug nach Holland, wo sie von einer Dame
empfangen wurden und von dort nach England. Am 2.09. 1939 kamen sie im Flüchtlingslager an, in dem auch
zufällig sein Bruder Willi und Cousin Heinz war. Beide hatten das Glück, mit Hilfe eines Verwandten in der
Reichsvertretung der Juden zu kommen und sind von dort aus nach England in das Flüchtlingslager gekommen.
Die Brüder Reissner hielten noch Briefwechsel mit den Eltern, auch wenn die Briefe zur Sicherheit über eine Cousine
in Schweden nach Deutschland gingen, oder umgekehrt, damit keiner wußte wo sie sich aufhielten.
Seine Schwester Ruth war angestellt in Berliner/Pankow, in einem jüdischen Waisenhaus und wurde mit den
Kindern nach Riga/Litauen deportiert und ist verschollen.
Herr Philipsborn war schon ein alter und kranker Mann. Er starb 1940 oder 1941 noch in Seelow.
Die Grundstücke der jüdischen Familien wurden auf Erlaß der Regierung verkauft. Dem Staat war es daran gelegen
eine schnelle Klärung und Ver-teilung der jüdischen Besitztümer vorzunehmen. Auf der Gemeinderatssitzung der
Stadt Seelow am 22.September 1942, war der Verkauf schon erledigt. So übernahm die Besitzerin des Hotel“
Schwarzen Adler“, das Grundstück der Familie Reissner, weil das Hotel Hilfslarzerett wurde. Das Grundstück der
Familie Philipsborne, in der Berliner Straße 46, übernahm die Deutsche Post.
Bis zum 25.November 1942 war Herr Reissner noch als Besitzer des Grundstückes im Grundbuch eingetragen.
Willi Reißner war in die Englische Armee eingetreten, war in den Gefangenenlagern tätig und half die Nazis
aussortieren. Dabei fanden sich Willi Reißner und Walter Pehle aus Seelow, nachdem sie sich einiges zu erzählen
hatten, wurde Walter Pehle mit Hilfe von Willi aus der Gefangenschaft entlassen. Willi beauftragte Walter noch, die
Bewohner der Stadt Seelow zu grüßen und daß er keinen Groll gegenüber den Leuten hat, die sich seiner Familie
gegenüber vernünftig verhielten. Dagegen aber suchte er auch die Nazis, welche das Leben seiner Familie schwer
machten.
Nach dem Krieg wurde bis 1949 in der Stadtverordnetenversammlung ein Konzept erarbeitet, wonach der
Judenfriedhof infolge der Zerstörung durch die Nazis und den Krieg, wieder aufgebaut werden sollte.
Selbst ein Kostenvoranschlag mit der Summe von 1.700,- Mark wurde auf der Stadtverordneten Versammlung am
28.05.1949 vorgelegt. Der Friedhof sollte in den zu schaffenden „Goethe Park“, auf dem Gelände des Stadtgutes
integriert werden. Auf dem Gelände des ehemaligen Judenfriedhofes in der Hinterstraße, befindet sich heute ein
Autoparkplatz.
Die Söhne Willi und Joachim Reissner und Heinz Philipsborne, haben in England eine Familie gegründet.
Die Nachfahren des Herrn Simon leben heute in den USA.
Für weitere Informationen zu diesem Thema kontaktieren Sie M. Schimmel.
Detailliertere Ausführungen sind auf Nachfrage vorhanden.
In der Progromnacht am 10.November 1938, schlugen SA-Leute die
Fensterscheiben bei den jüdischen Familien ein . Verwüsteten und zerstörten
die Wohnungseinrichtungen. Nachdem der Schlägertrupp der SA sein „Werk“
getan hatte, hieß es nur: „Feierabend“. Am nächsten Tag erst sah die Familie
Reißner und der Nachbarssohn Otto Theis den ganzen Umfang des Schadens.
Herr Philipsborn beschwerte sich beim Bürgermeister. Obwohl Joachim Reißner
über den Bürgermeister Dr. Flashar nur Gutes sagen kann, mußte der Polizist
Loose Herrn Phlilipsborn auf Grund seiner Beschwerde in Schutzhaft nehmen.
Wie schon erwähnt, haben sich nicht alle Seelower an die jüdischen
Behandlungsvorschriften gehalten. So kam der Nachbar Bauer Eisermann
regelmäßig zum Haarschneiden bei der Fam. Reissner, er hatte mal Friseur
gelernt. Die Friseure der Stadt lehnten es ab, die Haare der jüdischen Leute zu
schneiden, weil sie um ihr Geschäft bangten.
Der Schulkamerad und Nachbar Otto Theis half in dieser Zeit. Sehr oft
unbemerkt ging er zu Reissners und half ihnen oder übernahm Botengänge.
Jüdischer Grabstein
Am 1.April 1942 wurden alle verbliebenen jüdischen Mitbürger am
Seelower Bahnhof zusammen geholt. Ungefähr 15 jüdische Menschen
standen nun mit notdürftig zusammen gepackten Bündeln auf dem
Vorplatz. Unter ihnen befanden sich die Eheleute Louis Reissner und
Frau Phili-ppsborne. Die Spedition Pasche mußte sie aus Seelow
wegfahren. Die persönlichen Sachen sollten nach Königsberg
nachgeschickt werden. Durch einen Brief vom Deutschen Roten
Kreuz läßt es sich nachweisen , daß die Familie Reissner im
Warschauer Getto war und seit dem verschollen ist.